Krebs-Skandal in Bottrop: Opfer fühlen sich hintergangen

Aktualisiert

Ein Apotheker soll auf dem Rücken von Krebspatienten Medikamente gepanscht haben. In Essen wird jetzt nach der Schuld des Mannes gesucht. Er könnte glimpflich davonkommen.

„Der Krebsapotheker" nannte der NDR seine 30-minütige Dokumentation über einen der wohl spektakulärsten Kriminalfälle des Jahres. Er handelt von dem Bottroper Apotheker Peter Stadtmann, dem zur Last gelegt wird, jahrelang an Krebspatienten gepanschte Medikamente verkauft zu haben. Der Vorwurf ist schier unglaublich. Der 47-Jährige soll über Jahre Infusionslösungen mit Krebsmedikamenten, die er in seiner Apotheke auf Rezept herstellte, so stark verdünnt haben, dass sie praktisch keine Wirkung mehr hatten. Bei den Krankenkassen soll er jedoch den vollen Gehalt der immens teuren Wirkstoffe abgerechnet haben.

Es geht um 56 Millionen Euro

Das vermeintlich kriminelle Handeln des stadtbekannten Apothekers fiel erst auf, nachdem sich zwei seiner Angestellten an die Polizei in Bottrop gewandt hatten. Eine Laborantin und der Kaufmann der Apotheke hatten mit der Zeit unabhängig voneinander Verdacht geschöpft. Zum einen füllte Stadtmann die besonders teuren Krebsmedikamente immer – entgegen des eigentlich vorgeschriebenen Vier-Augen-Prinzips – allein ab. Zum anderen stimmten die abgerechneten Mengen an Wirkstoffen nicht mit den bei Pharmahändlern bestellten Mengen überein.

Nach kurzer Ermittlung erschloss sich den Kriminalbeamten schnell die Dimension des Falls. Stadtmann wurde verhaftet, die Staatsanwaltschaft erhob Anklage. Dem Apotheker wird vorgeworfen, Krebsmedikamente in 62.000 Fällen zu gering dimensioniert zu haben. Die Anklage lautet auf Betrug. Etwa 56 Millionen Euro soll der gebürtige Bottroper, der in seiner Heimatstadt als wohltätiger Spender für Krebsorganisationen bekannt war, auf Kosten der Krankenkassen eingestrichen haben.

Versuchte Körperverletzung oder Massenmord?

Aber was ist mit den Patienten? Laut Anklageschrift soll Stadtmann darauf bedacht gewesen sein, dass immer „ein wenig Wirkstoff in den Infusionsbeuteln" war. Damit der Schwindel nicht entdeckt werde. Unklar ist, welche Infusionslösung für welchen Patienten wie stark dosiert war und welchen Einfluss das auf den Krankheitsverlauf hatte. Dabei geht es um den Zeitraum von 2012 bis 2016 und schwerstkranke Patienten aus 37 Arztpraxen und Kliniken. Zahlreiche Opfer sind in der Zwischenzeit an Krebs gestorben. Die Staatsanwaltschaft fasste deshalb den Entschluss, den Vorwurf vor Gericht auf versuchte Körperverletzung zu reduzieren.

Zum Prozessbeginn am Montag stößt diese Entscheidung bei Betroffenen auf Unverständnis. Der Fall wird vor dem Landgericht Essen verhandelt. Rechtsanwälte der Opfer forderten das Gericht dazu auf, den Apotheker wegen „Massenmord" zu verklagen und vor das zuständige Schwurgericht zu bringen. Das Gericht schmetterte das Anliegen jedoch kurzerhand ab. Vor dem Gerichtsgebäude herrscht schon zu Prozessbeginn Ärger über die Justiz: „Was Stadtmann gemacht hat, ist an Dreistigkeit nicht zu überbieten," klagt eine Brustkrebspatientin, die die Infusionen für ihre Chemotherapie in der „Alten Apotheke" in Bottrop bezogen hatte.

In Bottrop ist „alles ein Sumpf"

Und der Angeklagte? An den ersten beiden Tagen verfolgte er schweigend das Geschehen. Beobachter gehen davon aus, dass er sich aus taktischen Gründen nicht zu den Vorwürfen äußern wird. Dafür gingen seine vier Rechtsanwälte zum Prozessbeginn in die Vorwärtsverteidigung: Sie beklagten dessen „mediale Vorverurteilung aus purer Gier nach Tratsch auf niedrigstem Niveau". Der Staatsanwaltschaft warfen sie „erhebliche Kalkulationsfehler" vor und eine „wissenschaftlich nicht haltbare" Analyse der sichergestellten Infusionsbeutel.

Unterdessen kam der Prozess kurzzeitig zum Erliegen, nachdem sich die Nebenkläger über die Auswahl der Schöffen beschwert hatten: Einer der Beisitzer betrieb selbst über Jahre eine Apotheke in Bottrop und sei mit den Eltern des Angeklagten befreundet. Es sei nicht hinnehmbar, dass er jetzt über den ehemaligen Kollegen und Bekannten der Familie urteilen solle. Die Richter der Kammer sahen jedoch keinen Grund für eine mögliche Befangenheit. In Bottrop sei „alles ein Sumpf" kommentierte eine betroffene Krebspatientin die Verhältnisse in ihrer Heimatstadt.